Kurt Mothes –
Abenteurer, Organisator, Jungenschaftler
Friederike Hövelmans
Der ehemalige Leopoldina-Präsident Kurt Mothes ist vor allem ob seiner wissenschaftlich-akademischen Karriere und seiner ganz eigenen, charismatischen und unbestechlichen Persönlichkeit eine angesehene Figur in der neueren Leopoldina-Geschichte geworden. Weniger bekannt ist der biographische Hintergrund dieses Charakters. Gerade bei der Betrachtung dieser beeindruckenden Auswahl an fotografischen Zeugnissen seines Nachlasses ist es interessant, sich dem jungen Kurt Mothes zu nähern – dem Mothes, der in den 1920er und 1930er Jahren diese Fotos geschossen hat: ein junger Mann, kein Jugendlicher mehr, aber doch entscheidend von seiner Jugend geprägt, ein Wissenschaftler ganz am Anfang der akademischen Laufbahn.
Wer war dieser Mann überhaupt? Aufgewachsen im Kaiserreich und Ersten Weltkrieg, ausgebildet in der Weimarer Republik, kontinuierliche Karriereschritte sowohl im Dritten Reich als auch in der DDR – vor allem letzteres klingt nach einem opportunistischen, unpolitischen Menschen, der vor allem seine eigenen Ziele verfolgte. Doch die Biographie von Kurt Mothes lässt sich nicht auf diese Weise verkürzen und enthält so manch spannenden Aspekt, der seine charismatische Persönlichkeit näher beleuchtet. Auf diesem Weg lernen wir den jungen Kurt Mothes kennen, dessen Erlebnisse und Erfahrungen erst den späteren Gelehrten und Präsidenten der Leopoldina möglich machen sollten.
Geboren 1900 als Sohn eines städtischen Oberverwaltungsinspektors im vogtländischen Plauen, erlebte er seine Kindheit in einem klassisch bürgerlichen Elternhaus des Kaiserreichs. Der Erste Weltkrieg brach demzufolge heftig in dieses Milieu und seine Jugend ein. Mothes legte großen Wert darauf, es seinen Freunden und Klassenkameraden gleich zu tun und wollte an die Front – zu seinem eigenen Bedauern war er zu jung, um noch eingezogen zu werden. Dennoch legte er das Notabitur ab und begann noch zu Kriegszeiten eine Ausbildung zum Apotheker.
Parallel zu seiner schulischen bzw. beruflichen Karriere und seinem Elternhaus gab es aber im Leben von Kurt Mothes eine weitere stabile Säule, die großen Einfluss auf den Jugendlichen und jungen Mann hatte und sein restliches Leben entscheidend prägte: die Jugendbewegung! Der Wandervogel begründete um die Jahrhundertwende eine Bewegung, die das Selbstbild der heranwachsenden Generationen grundlegend verändern sollte: Galt es bis zu diesem Zeitpunkt als gesellschaftlicher Konsens, dass auf die Kindheit das Erwachsenenalter folgte, entwickelte sich nun zum ersten Mal eine Jugend, die eine eigenständige Lebensform parallel zu Elternhaus und Schule einforderte. Die Suche nach der eigenen Individualität, nach »innerer Wahrhaftigkeit« und dem Bedürfnis nach einer selbstbestimmten Lebensgestaltung verlangte nach Raum und Selbständigkeit. Für 10–16jährige Jungen und Mädchen, die auf den weiterführenden Schulen des bürgerlichen Milieus mit dieser Jugendbewegung in Kontakt kamen, bedeutete es zu allererst, dass sie im Schutz einer Gruppe ihre Adoleszenz ausleben durften. Die Freizeitgestaltung an Nachmittagen, Wochenenden und in den Ferien war nun geprägt von gemeinsamen Aktivitäten, viel Zeit in der Natur, Wanderungen, Lagerfeuerromantik und dem Gedanken »Jugend führt Jugend«.
Kurt Mothes kam durch seinen Biologielehrer mit der Jugendbewegung in Kontakt. Bei den Wanderungen durch das Vogtland trafen sich seine schon zu diesem Zeitpunkt stark ausgeprägte Begeisterung für die Natur und sein aktives, unkonventionelles Wesen. Seine spätere Frau, Hilda Eilts, begegnete ihm in dieser Zeit zum ersten Mal und war zunächst wenig angetan, wie sie später berichtete: »Kurt Mothes war eine Klasse über uns und interessierte meine Freundin Erika und mich überhaupt nicht, im Gegenteil, wir machten uns über ihn lustig. Wenn er so mit seinen langen Schritten durch Wiesen und Moore stapfte, ein Jägerhütl auf dem Kopf, einen aus zwei Militärzeltbahnen gearbeiteten Umhang über Schultern und Rucksack, ein scharfes Messer in der Hand und eine große grüne Botanisiertrommel über der Schulter, dann sagten wir zueinander: ›Das ist wirklich ein komischer Kauz, ihn interessieren nur die Blumen, wenn sie Heu geworden sind.«
Hilda wie Kurt scheinen ihre Meinung doch noch geändert zu haben: aus den Weggefährten wurden Freunde, aus der Freundschaft wurde Liebe und nach ereignisreichen gemeinsamen Jahren heirateten die beiden 1929, gründeten eine Familie und Hilda wurde eine wichtige Stütze im Leben von Kurt Mothes. Näher kennengelernt haben sich die beiden während ihres Studiums und dort vor allem während ihrer Arbeit für die Studentenverwaltung an der Universität Leipzig, denn die Sächsische Jungenschaft, die sich nach dem Ersten Weltkrieg aus dem alten sächsischen Wandervogel heraus gründete, trennte sich von den Mädchen. Als rein männliche Organisation glaubte man den altersspezifischen Bedürfnissen der Jungen besser gerecht werden zu können. 1926 finden die geschlechtergetrennt organisierten Gruppen unter dem Dach der überregional organisierten Deutschen Freischar wieder zueinander, der Gruppenalltag und das Fahrtenleben bleiben davon aber unberührt. Kurt Mothes war von Beginn an Mitglied der Sächsischen Jungenschaft und engagierte sich im Laufe der 1920er Jahre in verschiedenen Gremien und Aktivitäten der Bundesarbeit, besonders in der Sächsischen Jungmannschaft, den ältesten Mitgliedern der Jungenschaft, die den reinen Jungengruppen entwuchsen und sich zum Teil an den Universitäten in veränderten Konstellationen wieder zusammenfanden.
Wichtigster Bestandteil der jugendbewegten Lebensweise war die Sehnsucht nach Erlebnissen in der Fremde und die Abenteuerlust, die auf großen Wanderfahrten quer durch Europa gestillt wurde. Die Fahrten der Sächsischen Jungenschaft führten meist nach Südosteuropa, und so heißt es in einem Fahrtenbericht von Kurt Mothes zu seinen Erfahrungen in Kroatien 1928: »[…] Ein neues Bimmelbähnchen, das durch Primelwiesen an Krokus und Christrosen vorbeiführt, kreisrunde Einbrüche in den Kalkboden (Dolinen), auf deren Grund die Bauern Kartoffeln pflanzen – und dann überraschend wieder deutsche Laute, ein deutsches Landstädtchen, inmitten einer grossen Doline, einer ›Polje‹ gelegen, Gottschee. Hier holen wir Atem für künftige Anstrengungen. Die Leute sind ernst, ziemlich zurückhaltend zu uns. Sie haben in dem neuen Staate Jugoslawien ihre alte Vormachtstellung eingebüsst, und das wurmt! […] Am nächsten Tag ziehen wir noch durch deutschsprechendes Gebiet in der Gottscheer Polje, elende Dörfer mit mutloser Bevölkerung, die kaum den deutschen Gruss zu bieten wagt, wo man uns schließlich für Beauftragte Deutschlands hält, den Boden für die Okkupierung auszumessen. [… Reise zur Insel Rab] Hier geniessen wir noch ein paar Tage das Meer, die Stille, die Farben, ruhen aus von der Fülle des immer Neuen, das uns Tag für Tag überwältigte. Hier erleben wir den Süden in seiner Pracht und seiner Fremdheit. Hier leuchtet, jubelt, braust, lacht alles, und nur im Traum denken wir an den Norden, an die Heimat, wo die Nebel wohnen, wo sich Licht und Schatten zu einem Grau vermählen, wo alles gedämpft, ruhiger, nüchterner – aber eben heimatlich ist. […] Daheim laufen wir durch dicken grossflockigen Neuschnee. Doch die Sonne der Adria brennt noch auf unserer Haut – und in unseren Herzen – und dort wird sie nie mehr aufhören können mit leuchten.«
In diesem Bericht kommen viele Themen zusammen, die die großen Fahrten der Jungenschaftler im Laufe der 1920er Jahre ausmachten: das Naturerlebnis, die Begegnung mit den auslandsdeutschen Siedlungen in Südosteuropa, Überreste des österreichischen Kaiserreiches und den damit verbundenen politischen Spannungen, aber auch die exotisch anmutenden Erlebnisse in der Fremde durch Kultur, Geographie und Wetter und nicht zuletzt der Vergleich mit der eigenen Heimat. Die unbekannte Natur mit ungewöhnlicher Flora und Fauna stellte für den Biologen Kurt Mothes einen besonderen Reiz dar und war gleichzeitig der unverfänglichste Aspekt der Reisen. Die vielen sehnsuchtsvollen Landschaftsaufnahmen und Detailfotos von besonderen Pflanzen finden sich nicht nur, aber besonders in seinem Nachlass in großem Ausmaß. Doch auch die anderen Jungen und jungen Männer waren fasziniert: In einem scheinbar freien Lebensraum, der mit allen Sinnen genossen wurde, konnten die Jugendlichen ihre Kräfte und Ausdauer testen, bei Bootsfahrten und Wanderungen ihrer Abenteuerlust freien Lauf lassen und gleichzeitig ihre Eigenständigkeit bei der Organisation der Fahrt wie auch der Verpflegung beweisen.
Die erst zufällige Begegnung und dann strukturierte Auseinandersetzung mit den auslandsdeutschen Siedlungen stellt sich als ungleich brisanter heraus und bewegte sich zwischen naivem Interesse sowie dem Wunsch zu helfen einerseits und der Abwehr von Irredenta-Vorwürfen andererseits. Den ursprünglichen Ausgangspunkt für diese Reisen stellte neben der unbekannten Natur auch der Wunsch nach der Begegnung mit dem Fremden und Exotischen in der Ferne dar. In den faszinierten Äußerungen von Mothes über die Adria und den schwärmerischen Ausführungen über die berauschenden Eindrücke der fremden Umgebung wird deutlich, wie unbekannt andere Länder, ihre Kultur und ihre Besonderheiten für Jugendliche dieser Zeit waren – Auslandsreisen für junge Menschen der bürgerlichen Mittelschicht waren ein Novum, brachten viele bunte Eindrücke in die Heimat und trugen durch diese Sonderstellung der jungen Männer mit zu deren Identitätsbildung und einem elitären Selbstbild bei. Es ermöglichte ihnen zum ersten Mal einen Blick über den heimatlichen Horizont hinaus und einen Perspektivwechsel, der den meisten Gleichaltrigen und oft auch den Eltern verwehrt blieb.
Trotz allem Engagements und gesellschaftspolitisch anmutender Aktivitäten der Jungenschaftler und vor allem der Jungmannschaftler hatte ein Standpunkt durchgehend Bestand: Die Erlebnisse der politischen Wirren gerade zu Beginn der Weimarer Republik ließen sie eine dezidiert als ›unpolitisch‹ beschriebene Haltung einnehmen, um sich nicht parteipolitisch vereinnahmen oder angreifbar machen zu lassen. Das Parteibuch des Elternhauses sollte für die Jugendlichen ebenso wenig eine Rolle spielen wie die aktuellen Koalitionen im Reich. Gesellschaftspolitisch relevante Tätigkeiten waren damit jedoch nicht gemeint, wie besonders Kurt Mothes in den darauffolgenden Jahren bewies: Seine politische Grundeinstellung zeigte sich in seinem zweiten großen Betätigungsfeld, der Arbeit im AStA der Universität Leipzig, schon einige Jahre früher.
Der Wechsel vom Heimatort in die Universitätsstadt sorgte beim ihm für eine Verschiebung und Erweiterung seines Handlungsspektrums. Laut den noch erhaltenen Akten des AStA war Mothes mit verschiedenen Arbeitsbereichen vom Wintersemester 1921 / 22 bis zum Wintersemester 1923 / 24 aktives Mitglied. Im Laufe der darauffolgenden Jahre waren auch verschiedene andere Mitglieder der Sächsischen Jungenschaftler in die studentische Selbstverwaltung involviert. Diese Art der politischen Partizipation steht also auch ein Stück weit stellvertretend für das gesellschaftliche Engagement und den Selbstanspruch der jungen Männer als eine Möglichkeit der Weiterentwicklung über die reinen Jungenaktivitäten hinaus.
Im Februar 1923 geriet die Studentenselbstverwaltung jedoch in eine Krise: Ausgelöst durch Streitigkeiten der organisierten Studentenschaft auf Reichsebene, gerieten in der Leipziger Studentenversammlung der linksliberale Flügel des AStA und korporierte Studentenschaften aneinander. Bei einer Reichsversammlung der Deutschen Studentenschaft in Würzburg kurz zuvor brachen völkisch-nationalistische Strömungen sich Bahn, es wurde über die Frage nach einem arischen Zugehörigkeitsprinzip diskutiert und eine entsprechende Satzung verabschiedet. Die endgütige Entscheidung wurde an die einzelnen Studentenschaften delegiert und erhielt vor dem Hintergrund der aktuellen Rheinlandbesetzung zusätzlichen politischen Zündstoff. In Leipzig brachen bei einer Studentenversammlung, in der über die Würzburger Satzung abgestimmt werden sollte, so große Tumulte aus, dass die Veranstaltung abgebrochen wurde. »Auf Grund der in der gestrigen Studentenversammlung gefassten Beschlüsse und vor allem auf Grund der taktlosen Haltung und ungeheuer rohen Kampfweise eines großen Teils der versammelten Studentenschaft […]« gab die Mehrheit des AStA ihren Rücktritt bekannt.
Weiter erklärten sie: »Nachdem die Annahme der Würzburger Satzung die Studentenschaft der Universität Leipzig im Gegensatz zu dem Beschluss des AStA setzt und damit einen großen politischen Kampf mit nie dagewesener Heftigkeit und unabsehbaren Folgen herausfordert, erklären wir, Vertreter der studentischen Arbeit, dass wir für einen derartigen unmotivierten politischen Schritt keinerlei Verantwortung übernehmen können, […]«. Kurt Mothes unterzeichnete diese Erklärung stellvertretend für achtzehn AStA-Mitglieder und war fünf Monate später auch unter den Mitgliedern eines neu gewählten AStA vertreten. Interessanterweise bezieht sich dieser AStA explizit auf eine Verfassung vom 7. Februar 1923, erstellt zwei Tage vor der eskalierten Studentenversammlung. Die vom ehemaligen AStA verabschiedete Satzung scheint also auch über den Aufruhr hinaus Bestand gehabt zu haben und zeugt nicht nur von einer personellen, sondern auch inhaltlichen Kontinuität und einer Abwehr jener völkischer Tendenzen.
Während seiner aktiven Zeit in der Studentenselbstverwaltung schuf Kurt Mothes eine damals neuartige und ungewöhnliche Institution der studentischen Selbsthilfe, die sogenannte »Helferschaft«. Rudolf Lennert, ein lebenslang wichtiger Freund von Mothes, berichtete später nicht ohne Stolz aus dieser Zeit und würdigt den Anteil seines Freundes an diesem Werk: »Ihr Zentrum war die Mensa, und ermöglicht wurde ihr Entstehen durch die einmalige Situation der Inflationsjahre, die einen großen Teil der Studenten an den Rand der Existenzmöglichkeit brachte. Für sie baute Mothes aus den Resten eines inflationsverfallenen Theologenkonvikts mit Hilfe zweier Professorenfrauen eine große, leistungsfähige Mensa auf, die um 1923 etwa 2000 Studenten beköstigte […]« Dieser Betrieb konnte nur aufrecht erhalten werden mit »etwa hundert Studenten und Studentinnen, die diesen Dienst nach einem genau geregelten Stundenplan verrichteten, bald zusammenwuchsen und während der Essenszeiten an zwei großen Ecktischen der Mensa und auf vielen gemeinsamen Abenden und Wanderungen […] ein Gebilde aus allen Fakultäten wurden, was es außerhalb der Korporationen sonst kaum gab. Einige von ihnen leiteten und versahen statt des ›Tischdienstes‹ eine Reihe von kleinen Spezialämtern, die zum Teil noch aus der Vorkriegs-Freistudentenschaft stammten: das Wohnungsamt, eine Leihbücherei, ein (Wander-)Kartenverleihamt, ein Theateramt – und ein ›Bettwäscheverleihamt‹. Die größte dieser studentischen Selbsthilfeeinrichtungen, das ›Akademische Übersetzer- und Dolmetscherbüro‹, wuchs seiner wirtschaftlichen Verflechtungen wegen bald aus der Helferschaft heraus; und das politischste Erbe der alten Freistudentenschaft, die ›Studentischen Arbeiterunterrichtskurse‹, wurde ebenfalls eine selbständige Organisation. Der Mensa-Vorsitzende und Chef der ›Helferschaft‹ war eine mächtige Figur an der Universität – jahrelang war das Mothes selbst, neben seiner intensiven Arbeit in der eigentlichen ›Hochschulpolitik‹ und einem nie unterbrochenen Studium auf hohem Niveau. Das Ungewöhnliche der Zeit schien auch ungewöhnliche Kräfte zu wecken. […]«
In Kontext der ›Studentischen Arbeiterunterrichtskurse‹ kam es auch zum Kontakt mit dem Leuchtenburgkreis, einem gesellschaftspolitisch ausgerichteten und mit der Sozialdemokratie sympathisierenden Zusammenschluss von Studierenden um den späteren Erziehungswissenschaftler Fritz Borinski, die sich explizit nicht als bündisch, aber als der Jugendbewegung nah verstanden. Ein favorisierter Treffpunkt dieses Kreises war die namensgebende Leuchtenburg bei Jena, im Alltag verstreute sie sich aber auf verschiedene mitteldeutsche Universitäten. Durch individuelle Kontakte, Freundschaften und Personalunionen kam es zu einer intensiven Zusammenarbeit zwischen Mitgliedern der Sächsischen Jungmannschaft, die vielfach an der Universität Leipzig studierten, und dem Leuchtenburgkreis. 1930 sollte die Mehrheit der männlichen Leipziger Mitglieder des Kreises aus der Sächsischen Jungmannschaft stammen. Im September 1928 leitete Kurt Mothes eine Arbeitswoche der Jungmannschaft, in deren Verlauf Fritz Borinski und Adolf Reichwein mit den jungen Männern über die Arbeiterbewegung und Arbeiterbildung diskutierten. Trotz der personellen Nähe und engen Zusammenarbeit sah sich Kurt Mothes scheinbar jedoch nicht in der Lage, einen selbstdefinierten Grundsatz der Jugendbewegung nach einer unpolitischen Haltung im Sinne einer parteipolitischen Positionierung zu überwinden.
Dennoch erwartete er von sich und seinen Freunden eine gesellschaftlich reflektierte Wahrnehmung und kritische Auseinandersetzungen mit den aktuellen Geschehnissen zu Beginn der 1930er Jahre: »[…] Jahre leichten Lebens, freudiger Anerkennung haben es der ›Jugendbewegung‹ leicht gemacht. Bürgerlichkeit lebt in ihr. Massensehnsucht, Führergeschrei, Programmseligkeit herrscht auch bei uns. Reißen wir uns los davon. Sagen wir uns, daß unser Weg in die Einsamkeit, unser Nichtgehörtwerden, unser Beiseitegeschobensein, unsere Hoffnungen auf neues Leben, neue Aufgabe, neues Führertum sind. Uns dies gegenseitig mitzuteilen, halte ich für so wichtig, daß Ihr alle Eure Pfingstpläne umstellen und nach Quersa kommen solltet. Es liegt an uns, aus dem Gautag mehr werden zu lassen als eine Diskussion über Gegenwartsfragen. […] So solltet Ihr alle mit beitragen, fühlbar und denkbar zu machen, warum der Ernst unserer Lage grösser ist als einer nur politischen, wirtschaftlichen Not entspricht. […]«
Kurt Mothes schien sich der Gefahr, auf die Deutschland sich zu bewegte, im Rahmen des möglichen bewusst gewesen zu sein und versuchte, ein kritisches Hinterfragen der gesellschaftlichen Strömungen anzustoßen. Im Sommer 1933 wurde die Bündische Jugend als größter Feind der Hitlerjugend verboten. Kurt Mothes konzentrierte sich daraufhin wie viele andere Jugendbewegte auf seine Karriere und seine junge Familie, und doch ließ ihn die Prägung seiner Jugend nie los. Trotz seiner weitreichenden Aktivitäten, beruflichen Verpflichtungen wie auch ehrenamtlichen Engagements, begleitete ihn die Reiselust sein Leben lang. So ist das Ehepaar Mothes immer gereist und es ist ihnen gelungen, sich die dafür nötigen Freiräume zu schaffen, wie Hilda Mothes z. B. hier das junge Paar, gerade im Berufsleben stehend, beschrieb: »[…] Bei K. spürte ich die Ferienreife nicht so wie bei mir. Natürlich steckt er wie immer tief in seinen wissenschaftlichen Arbeiten, hat daneben seine Treffen und oft schwere Diskussionen innerhalb der sächsischen Jungmannschaft. Aber er ist unheimlich stark, kann alles verkraften, kann auch Nicht Erledigtes unerledigt liegenlassen, studiert Karten und ist schon lange botanisch mit der Reise beschäftigt. Dagegen bin ich völlig geschafft und kann kaum mehr japsen. Mein erstes Schuljahr an der Helene-Lange-Schule ging zu Ende mit den vielen Konferenzen und den nächtelangen Korrekturen und Zensuren-schreiben. Dazu kommt meine immer verantwortlicher gewordene Arbeit als Führerin der Frauen und Mädchen innerhalb der Deutschen Freischar, bis zuletzt habe ich tagelang Besuche und Besprechungen mit Gruppen- und Gauführerinnen. Trotzdem sitze ich schon 2 Std. nach Schulschluss mehr tot als lebendig neben K. im Zug nach Süden. […]«
Interessant sind der Anspruch, den Kurt Mothes an sich selbst stellte und in seinem Alltag lebte, wie auch die beeindruckende Energie, welche er in seine verschiedenen Interessensgebiete investierte. Beide Ehepartner waren zu dieser Zeit noch in den jeweiligen Untergruppen der Deutschen Freischar aktiv, in denen sie aufgewachsen waren, und doch wurde es zunehmend schwieriger, Jugendbewegung und Alltagsleben miteinander in Einklang zu bringen – mit der Geburt von Tochter Ute 1931 gab Hilda Mothes ihre Posten ab, und auch Kurt Mothes zog sich in den 1930er aufgrund interner Spannungen und Unstimmigkeiten über die politische Zukunft der Deutschen Freischar immer mehr aus seinen Ämtern zurück – eine Politisierung der Jugendbewegung und ein erzwungener Zusammenschluss mit rechtsorientierten Jugendbünden kam für ihn nicht in Frage. Stattdessen versuchte er 1932 mit der Gründung einer »Kameradschaft« den alten Freundschaften eine neue Form zu geben, die sich nicht von ihrer jugendbewegten Zugehörigkeit lossagen sollte, aber dennoch einen privat anmutenden, sehr persönlichen Rahmen bot, die gemeinsamen Verbindungen in ihr Leben als erwachsene Männer zu integrieren. »Der Kern dieses Freundeskreises liegt also in solchen Männern, die in unserer Zeit der begeisterten Ein- und Unterordnung ihre Eigenwilligkeit, ihre eigene Gedankenwelt, kurz ihre Persönlichkeit bewahrt haben.« Trotz des deutlich hervorstechenden Unmutes über die aktuellen politischen Entwicklungen definierte Kurt Mothes aber keine eigene politische Handlungsmaxime, sondern übertrug die Verantwortung auf das Individuum und dessen bündisch geprägten Charakter.
Diese jugendbewegten Einflüsse sollten auch sein Selbstverständnis und sein Handeln in vielen Bereichen seines weiteren Lebens bestimmen – sein oft erwähnter charismatischer Führungsstil und die Fähigkeit, das Zusammengehörigkeitsgefühl einer Gruppe zu fördern, prägten sein Berufsleben, an den Universitäten in Königsberg und Halle, am Forschungsinstitut Gatersleben und auch an der Leopoldina. Die Liebe zum Reisen und das Bedürfnis, sich in der Natur zu bewegen, sehen wir in den hier ausgestellten Bildern. Hilda Mothes fasste die Lebenseinstellung, die ihr Leben genauso prägte wie das ihres Mannes, während eines Vortrags gut zusammen, den sie vor Freunden und Weggefährten im hohen Alter hielt: »[…] Die Grundlagen unseres Handelns zwischen dem 15. und 30. Lebensjahr sind dieselben wie zwischen dem 31. und 83. bzw. 88. Lebensjahr: Liebe zur Natur, zum einfachen Leben, intensive Arbeit und ebenso intensive Erholung und immer wieder die Bereitschaft, über die eigenen Interessen hinaus anderen zu helfen und zu dienen. Ob das angeborene Eigenschaften sind, die durch die Jugendbewegung geweckt und entwickelt wurden, wage ich nicht zu entscheiden. Jedenfalls blieb unser Leben ohne Bruch, auch wenn wir durch die vielen Aufgaben, die das Leben an uns stellte, jahrzehntelang nicht das Bedürfnis hatten, uns mit unserer Vergangenheit zu beschäftigen. […] Es ist mir gelungen, mir meine gewohnte geistige Welt zu erhalten.« Vielleicht hätte es Kurt Mothes so oder so ähnlich selbst auch ausgedrückt.
- [ 1 ] Hilda Mothes: Lebensbericht von Kurt Mothes und Hilda Eilts. Mitschrift ihres Vortrags beim Treffen des Freideutschen Konvents 11.– 13. 5. 1988 in der Eifel. Mothes-Nachlass Benno Parthier.
- [ 2 ] Fahrtbericht / Kommentar zur Fotosammlung, Kroatien Ostern 1928. Leopoldina Archiv, Nachlass Kurt Mothes (N 31), 23 / 2a / 03.
- [ 3 ] Siehe: Friederike Hövelmans: Die Begegnung mit dem Fremden: Auslandsfahrten der Bündischen Jugend in der Weimarer Republik – am Beispiel der Sächsischen Jungenschaft, in: Leonard Schmieding / Alfons Kenkmann (Hrsg.): Kohte, Kanu, Kino und Kassette. Jugend zwischen Wilhelm II und Wiedervereinigung. Leipzig 2012., S. 59–81.
- [ 4 ] AStA = Allgemeiner Studenten-Ausschuss
- [ 5 ] Siehe: Unterlagen Allgemeiner Studenten-Ausschuss der Universität Leipzig, UAL, Film 436.
- [ 6 ] Siehe: Manifest des AStA, Zeitungsartikel des Leipziger Tageblatt (11. 2. 1923), der LVZ (12. 2. 1923) und der LNN (27. 2. 1923), UAL, Film 436.
- [ 7 ] Erklärung des AStA, 10. 2. 1923, UAL, Film 436.
- [ 8 ] Siehe: Bekanntgabe des neuen AStA an das Rektorat der Universität, 30. 7. 1923, UAL, Film 436.
- [ 9 ] Rudolf Lennert: Universität und Studentenschaft im Leipzig der zwanziger Jahre. S. 25f., in: Gerd Doerry (Hrsg.): Politische Bildung in der Demokratie. Fritz Borinski zum 65. Geburtstag. Berlin 1968.
- [ 10 ] Siehe: Fritz Borinski u.a. (Hrsg.): Jugend im politischen Protest 1923 – 1933 – 1977. Frankfurt / Main 1977, S. 24–42.
- [ 11 ] Rundbrief von Kurt Mothes als Reaktion auf die Einladung zum Gautreffen Pfingsten 1932, 06. 5. 1932, AdJB, A22 / 11.
- [ 12 ] Reisebericht Korsikafahrt 1930, geschrieben von Hilda Mothes 1983. Leopoldina Archiv, Nachlass Kurt Mothes (N 31), 23 / 2a / 05 / 07.
- [ 13 ] Nachzulesen u.a. in seiner Korrespondenz. Leopoldina Archiv, Nachlass Kurt Mothes (N 31), 21 / 07 / 08 / 01.
- [ 14 ] Aufruf zur Bildung der Holzbacher Kameradschaft im Gau Sachsen der Deutschen Freischar, verfasst von Kurt Mothes, 15. 1. 1932, AdJB, A22 / 11.
- [ 15 ] Zit. nach Hilda Mothes: Lebensbericht von Kurt Mothes und Hilda Eilts. Mitschrift ihres Vortrags beim Treffen des Freideutschen Konvents 11. – 13. 5. 1988 in der Eifel. Mothes-Nachlass Benno Parthier.