Aus Neugier
auf das Fremde

Jugendbewegte Europareisebilder aus dem Nachlass Kurt Mothes

17.6.2023 – 16.5.2024
Stadtarchiv Plauen

Liebe Besucherinnen und Besucher,

Prof. Dr. Kurt Mothes (1900–1983), der bedeutende Naturwissenschaftler und XXII. Präsident der Leopoldina, der Nationalen Akademie der Wissenschaften, wurde vor über 120 Jahren in Plauen geboren und verbrachte hier prägende Kindheits- und Jugendjahre. Die Gastausstellung »Aus Neugier auf das Fremde« des Archivs der Leopoldina zeigt Bilder des jungen Reisenden Kurt Mothes aus seinem Nachlass. An diesen bedeutenden Naturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts erinnern in Plauen die nach ihm benannte Apotheke und ein Memorialbaum – eine Rotbuche auf der Grünfläche am Unteren Steinweg. Die biografischen Verbindungen von Kurt Mothes nach Plauen waren ausschlaggebend für die Idee zu dem gemeinsamen Projekt. Wir laden Sie herzlich ein, die Ausstellung und die dazu angebotenen Veranstaltungen zu besuchen und diesen einzigartigen Bilderschatz für sich zu entdecken. Zur Ausstellung erscheint ein digitales Begleitheft, welches Sie hier herunterladen können. Neben einer Auswahl an Bildern können Sie in der Ausstellung auch eingesprochene Texte aus den Reisetagebüchern hören und für die jüngsten Besucher wird ein Kinderquiz angeboten.

Doris Meijler und Danny Weber


Einführung

Jörg Simmat, Schauspieler, Plauen
6:42 min


Besucherinformationen

Stadtarchiv Plauen
Unterer Graben 1, 08523 Plauen
Eingang über Herrenstraße

Öffnungszeiten
Di: 9–18 Uhr
Mi: 9–15 Uhr
Do: 9–17 Uhr

Sonderöffnungszeit
17. Juni 2023, 10–17 Uhr

Kuratorenführungen
23. Juni 2023 um 19 Uhr / 20 Uhr / 21 Uhr
2. November 2023, 14. März 2024
jeweils um 17.30 Uhr Dr. Danny Weber

Lesung
Aus Neugier auf das Fremde – Anekdoten aus den Reisetagebüchern, Dr. Danny Weber
2. November 2023, 19 Uhr

Autorenlesung
Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen
Jaroslav Rudiš
26. Oktober 2023, 19 Uhr


Der Eintritt zur Ausstellung und allen Veranstaltungen ist kostenlos.

Allgäuer Alpen bei Oberstdorf, September / Oktober 1934, Mädelegabel, Hilda Mothes

Aus Neugier auf das Fremde

Danny Weber

Die Geschichte hinter der Ausstellung ist so schön wie klischeehaft, und gerade deswegen ist sie es auch wert, an dieser Stelle erzählt zu werden. Archiven und damit auch Archivaren haftet das Stigma des Verstaubten an. Sie, die Archive, befinden sich demnach idealtypisch in Kellern voller endloser Regale, in Räumen mit schummriger Beleuchtung und werden von unscheinbaren und regelrecht farblosen Menschen betreut, die immer leise sprechen und sich merkwürdig kleiden. Außerdem sind diese Archive aufgrund ihrer schier endlosen Größe wahre Labyrinthe, und nur der Eingeweihte versteht es, sich darin zu orientieren. Zuwachs für Archive findet sich, so das Klischee, in der Regel auf Dachböden, wo in großen Truhen stapelweise alte Papiere lagern, welche, kurz bevor sie entsorgt werden sollen, von den Archivaren gerettet und in die Kellermagazine gebracht werden – soweit ein paar der verbreiteten Annahmen in Bezug auf Archive und Archivare.

Doch nichts davon entspricht der Realität. Der Beruf des Archivars ist in der Gegenwart vielmehr ein sehr komplexer und anspruchsvoller, muss doch der Archivar einerseits dafür sorgen, dass die von vielen Vorgängergenerationen übernommenen Urkunden, Akten und Amtsbücher auch den zukünftigen Generationen erhalten bleiben. Andererseits hat er Sorge dafür zu tragen, dass im Zeitalter des zunehmend »papierlosen Büros« die unzähligen, in unterschiedlichen Formaten abgelegten Dateien genauso behandelt werden wie die kaiserlichen Urkunden des 10. Jahrhunderts. Dies macht Archivare heute zu Spezialisten der Informationsbeschaffung zwischen Mittellatein und XML. Die Ausbildung zum Archivar ist umfangreich und erfolgt auf drei Ebenen, dem eines Ausbildungsberufes, eines Fachhochschulstudiums oder eines wissenschaftlichen Referendariats nach abgeschlossener Promotion. Auch gelangen Unterlagen auf geordneten Wegen ins Archiv in Form von Übergaben von Behörden, Abteilungen, Privatpersonen etc.

Und dennoch, so ähnlich wie Indiana Jones seinen Studenten im Archäologieseminar versucht beizubringen: »Noch nie hat ein X irgendwo, irgendwann einen bedeutenden Punkt markiert« und später in eine wichtige Gruft mit einer X-Markierung gehen wird, so kann man auch versuchen, den Archivarsberuf von Klischees zu befreien – wenngleich es immer wieder Situationen gibt, die nur zu sehr den gepflegten Stereotypen entsprechen. So auch hier.

Es war an einem Sommertag im Jahr 2009, als der Verfasser dieses Beitrags den Anruf erhielt, dass man aus den Kellern der Präsidentenvilla der Leopoldina in der Emil-Abderhalden-Straße 37 einige Sachen entsorgen wollte. Gemeinsam mit einer Mitarbeiterin suchten wir den Keller auf und fanden ein (Alt-)Möbellager mit alten Stühlen, Tischen, Schreibtischen und Karteikartenkästen vor. Langsam sahen wir uns um, untersuchten den Inhalt der Karteikartenkästen und schauten eher routinemäßig noch einmal in die Schreibtische. In einem der Schreibtische – ein schweres Echtholzmodell, welches schon mehrere Jahrzehnte seinen Dienst versehen hatte – entdeckten wir ein paar Holzkisten und kleinere Schachteln. Als wir die Kisten öffneten, fanden wir darin Dia- bzw. Glasnegative. Interessiert versuchten wir auf den Bildern etwas zu erkennen, und bei näherer Betrachtung stellte es sich heraus, dass es sich offensichtlich um eine Lehrsammlung botanischen Inhalts mit allerlei chemischen Formeln handeln musste.

Reihenfolge der Strandbesiedlung
LeoA, N 31_GN-02-098

Unweigerlich musste ich an meinen eigenen Schulunterricht und die vielen Vorträge mit Diaprojektor denken, in denen wir z. B. die Eiszeit und ihre Folgelandschaften erklärt oder Bilder vom Roten Platz in Moskau gezeigt bekamen. Eine fast surreale Vorstellung, verglichen mit der Hektik und dem ästhetischen Einheitsbrei heutiger PowerPoint-Präsentationen. Dennoch stellte sich nun im Keller der Villa die Frage nach der Archivwürdigkeit. Zugegeben: die Bilder waren von einiger Qualität, aber es war duplizierbare Massenware und vielleicht für ein Schulmuseum oder Ähnliches interessant, nicht jedoch überlieferungswürdig im Archiv der Nationalen Akademie der Wissenschaften. Demnach bekamen die Kästen ein vorläufiges »K« für Kassation – auch so ein schönes Klischee: Archivare müssen alles aufheben. Das Gegenteil ist der Fall, denn Archivare sind gezwungen, aus der schier endlosen Masse an Unterlagen diejenigen herauszufiltern, welche charakteristisch für Aufgabenerfüllung und Zeitumstände stehen. Das führt in großen Staatsarchiven zu Übernahmequoten von ca. 1 % der gesamten angebotenen Unterlagen, im Leopoldina-Archiv ca. 8 – 10 % der übergebenen Dokumente, Dateien, Bilder etc. In diesem Sinne ist der Archivar eher ein »Wegwerfer« oder ein strenger Selektierer.

Besagte Kästen also wurden nicht sofort entsorgt, sondern für eine spätere detailliertere Durchsicht zunächst ins Archiv gebracht. Etwas Zeit verging, und als im Herbst 2013 eine größere Bewertung von übernommenem Foto-, Ton- und Videomaterial anstand, kamen die Kisten wieder in Erinnerung. Zunächst waren da in den Holzkisten die vorher bereits bekannten Diaserien mit botanischem Inhalt, doch nach und nach kamen auch andere Bilder, zunächst auf Glasplatten, zum Vorschein. Schließlich wurden auch die weiteren Kartons noch einmal auf ihren Inhalt überprüft, und hier fand sich eine große Anzahl von Papierhüllen mit Fotonegativen.

Fotoverpackungen

Nach und nach wurde nun deutlich, dass es sich bei den Negativen nur zum sehr geringen Teil wirklich um botanisches Lehrmaterial handelt und dass der überwiegende Teil Fotografien privaten Ursprungs war: Sie stammen vom XXII. Präsidenten der Leopoldina – Kurt Mothes (1900 – 1983).

Nach dieser Zuschreibung begann die eigentliche Arbeit. Insgesamt konnten 900 Glasnegative in unterschiedlichen Größen und 1500 Nitratnegative sichergestellt werden. Letztere lagen teilweise lose in den Holzkisten, häufig waren sie miteinander verklebt, teilweise befanden sie sich aber auch in kleinen Originalpapierumschlägen oder -fotoschachteln. Diese Umschläge oder Schachteln waren nur sehr selektiv beschriftet und wenn, dann nur schwer zu entziffern, da die Handschrift von Mothes nur sehr mühsam und mit etwas Übung zu lesen ist.

Beschriftete Fotonegativhüllen

Bei näherer Betrachtung der einzelnen Negative konnten eine ganze Reihe von Beschädigungen festgestellt werden, die auf die jahrzehntelange unsachgemäße Lagerung zurückzuführen sind. Risse in den Glasplatten, Knicke und Verklebungen an den Nitratnegativen und allgemeine mechanische und chemische Schäden hatten den Bildern zugesetzt. Als besonders problematisch erwiesen sich die Nitratnegative. Diese, ca. zwischen 1889 und 1955 benutzten, Foto- und Filmnegative unterliegen einer schnellen Alterung, was zunächst zum Verlust von Bildinformationen führt. Problematischer als der reine Bildverlust ist aber die Tatsache, dass die Negative bereits bei Temperaturen ab 30 Grad oder starker Reibung selbstentzündlich sind und somit eine hohe Gefahr darstellen. Neben den konservatorischen Problemen und der Frage nach der Finanzierung von geeigneten Maßnahmen stellte sich die Frage nach der Erschließung der Bildmaterialien und, weiter gedacht, nach der angemessenen Präsentation. Zunächst wurde die Entscheidung getroffen, die Negative durch einen Dienstleister zu digitalisieren, anschließend auf Sicherheitsfilm auszubelichten und – für einen Archivar immer schmerzvoll – die Originale, weil sie ein zu großes Sicherheitsrisiko darstellen, vernichten zu lassen.

Problematisch bei der sich anschließenden Erschließungsarbeit war vor allem, dass die Beschriftung nur sehr selektiv und teilweise unleserlich war und sich keine klare Ordnung und Struktur erkennen ließ. Glücklicherweise fanden sich aber im Nachlass von Kurt Mothes, der sich ebenfalls im Leopoldina-Archiv befindet und ca. 25 laufende Meter umfasst, weitere Fotoalben,denen einige Abbildungen zugeordnet werden konnten. Ferner hatten sich teilweise Reiseberichte  überliefert, die als unterstützende Quellen bei der Zuordnung und Erschließung der Bilder herangezogen werden konnten.

Fotoalben aus dem Nachlass Kurt Mothes
Handschriftlicher Reisebericht aus dem Nachlass Mothes

Doch längst nicht zu allen Bildern gab es derartige Hinweise, sodass die Zuordnung sehr mühsam ist. Daher ist sie bis in die Gegenwart noch nicht komplett abgeschlossen.

Die Bilder stammen etwa aus den Jahren 1918 bis 1940. Einige Motive der Bilder sind aber älter, denn Mothes hat, wahrscheinlich aus Gründen der Vervielfältigung, auch ältere Familienbilder abfotografiert. Inhaltlich lassen sich die Bilder in vier große Komplexe unterteilen: private Bilder, Dokumentation von Reisen, botanische Fotografien und Fotografien mit zeitgeschichtlichem Kontext.

Unter den privaten Bildern sind zunächst Bilder der Familie Mothes, also seiner eigenen Vorfahren. Hier hat Kurt Mothes einige im Familienbesitz befindliche Bilder, welche auf Karton aufgezogen waren, mit seiner Kamera abfotografiert.

Älteres abfotografiertes Kinderbild
LeoA, N 31_GN-09-561

Den größeren Teil umfassen aber Bilder seiner eigenen Familie, beginnend mit der Verlobung mit seiner Frau Hilda und den Hochzeitsbildern. Weiterhin Taufbilder der Kinder, Bilder von Weihnachtsfesten, der spielenden Kinder und immer wieder gemeinsame Familienbilder, teilweise sogar mit Kurt Mothes’ Eltern.

Die weit überwiegende Masse der Bilder dokumentiert aber die vielen Reisen, welche Mothes und seine Frau zunächst im Rahmen der Jugendbewegung, später mit Freunden aus den Zeiten der Jugendbewegung unternommen haben. Reisen, die sie von Skandinavien im Norden bis Korsika im Süden führten, beginnend mit einer ersten Fahrt in die Allgäuer Alpen 1924 und endend mit einer Rumänienfahrt im Sommer 1938. Viele Jahrzehnte später hatte Hilda Mothes auf die Frage nach der Motivation für diese Reisen geantwortet, dass es »die Liebe zur Natur und die Neugier auf das Fremde« gewesen seien, die sie zum Reisen gebracht haben. Genau diese Aspekte finden sich auf den Bildern wieder. Es sind Bilder von Gletschern in Norwegen, endlosen Stränden an Nord- und Ostsee, Bilder aus dem Riesengebirge, den Alpen, der Tatra, dem Karstgebirge Kroatiens, den Bergen Korsikas oder Rumäniens. Daneben aber auch eine Vielzahl von Aufnahmen, die das Leben der Bevölkerung in diesen Ländern abbilden. Darunter sind sehr eindrucksvolle Bilder, die Volkstrachten, traditionelle Handwerksberufe, ländliche Architektur oder auch einfache Marktszenen wiedergeben.

Von Zeitzeugen wissen wir, dass sowohl Kurt Mothes als auch seine Frau sich besonders für Fotografie interessiert haben. Bereits in den zwanziger Jahren hatte er vergleichsweise viel Geld in eine eigene Fotoausrüstung investiert und damit seine unterschiedlichen Aktivitäten dokumentiert. Auch später und bis ins hohe Alter sind beide der Fotografie treu geblieben. Bei den im Konvolut vorgefundenen Bildern lässt sich allerdings nicht immer die Autorschaft eindeutig zuordnen. Es ist davon auszugehen, dass die meisten Bilder direkt von Kurt Mothes fotografiert wurden. Teilweise wird sich aber sein Frau Hilda als Fotografin betätigt haben.

Gemein ist fast allen Bildern, dass sie für Laien – weder Mothes noch seine Frau hatten eine Fotografenausbildung absolviert – von einer besonderen, ja teilweise hervorragenden Qualität sind, und dies im doppelten Sinne. Zum einen sind die Bilder von besonderer ästhetischer Qualität. Mothes und auch seine Frau haben es geschafft, die Objekte sehr gut und häufig auch sehr stimmungsvoll einzufangen. Sie hatten ein besonderes »Auge«. Zum anderen sind die Bilder auch von der technischen Seite her von besonderer Qualität. Sie sind optimal belichtet und von sehr guter Schärfe. Es ist notwendig, auch diesen Aspekt zu betonen, da in einer Zeit, in der mittels Digitalfotografie mit ihren vielen kleinen technischen Hilfen (z. B. Bildstabilisatoren etc.) optimale Bilder produziert werden und der »Fotograf« häufig auf die Rolle des Auslösenden reduziert ist, es kaum noch vorstellbar scheint, unter welchen Bedingungen man vor 80 bis 90 Jahren noch Bilder erstellt hat.

Doch wie kommen nun diese Bilder nach Halle, in die Leopoldina und in den Schreibtisch? Wir wissen, dass Mothes gegen Kriegsende seine Familie aus Königsberg nach Mecklenburg evakuiert hatte. Er selbst blieb in Königsberg und meldete sich freiwillig als Apotheker. Nach dem Kriegsende kam er in sowjetische Kriegsgefangenschaft, aus der er erst 1949 entlassen wurde. Es ist davon auszugehen, dass die Bilder, wie auch weite Teile des Hausstandes, mit der Familie nach Mecklenburg evakuiert worden sind. Im Archiv der Leopoldina wird der Nachlass von Kurt Mothes verwahrt. Darin befinden sich neben Korrespondenzserien auch einige Fotoalben und Reiseberichte. In den Fotoalben sind wenige der Bilder als Positivabzüge vorhanden. Warum die Kisten mit den 2500 Negativen nicht dem Nachlass hinzugefügt worden sind, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Es ist aber ein wirklich glücklicher Umstand, dass sie noch einmal gesondert überprüft und sichergestellt werden konnten.

Was kann die heutige Forschung mit diesen Bildern anfangen? Aufschlussreich wären biografische Forschungen zu Mothes bzw. dessen Umfeld, Fragen zur Jugendbewegung auch nach dem offiziellen Verbot nach 1933. Es lassen sich ethnologische Fragen an das Material richten, aber auch geografisch und botanisch interessante Erkentnisse gewinnen. Nicht zuletzt sind die Bilder zeithistorisch wertvolle Dokumente. Darüber hinaus besitzen sie aufgrund ihrer technisch-ästhetischen Qualität einen besonderen Wert, der allein es rechtfertigt, sie einem größeren Publikum zu präsentieren. Die vorliegende Ausstellung ist daher so konzipiert, dass kein erschöpfender Überblick über das gesamte Bildmaterial geboten werden soll. Vielmehr war es das Ziel, die vielen Reisen in den Mittelpunkt zu stellen und hierbei ausgewählte Bilder zu präsentieren. Als Nebeneffekt soll auf das große Konvolut hingewiesen werden, um weitere Forschungsarbeiten anzuregen. Es wird keine didaktisch geschlossene oder abschließende Ausstellung zur Jugendbewegung oder zur Biografie von Kurt Mothes präsentiert. Vielmehr stehen die Bilder im Mittelpunkt und werden nur durch sparsame Informationen in den richtigen Kontext gesetzt.




Ostpreußen, Juli 1936, Kurisches Haff bei Kargeln

Fotografien von Kurt Mothes

Vilnius 1938
Vilnius 1938
LeoA, N 31_NN-01-104-01
Hohe Tatra, August 1929, Floßfahrt auf dem Dunaje
Hohe Tatra, August 1929, Floßfahrt auf dem Dunaje LeoA, N 31_GN-08-485
Korsika, April 1930, Affodillgewächs/<wbr>Grasbaumgewächs
Korsika, April 1930, Affodillgewächs/Grasbaumgewächs LeoA, N 31_GN-11-767
Helgoland, 1930
Helgoland, 1930 LeoA, N 31_NN-04-393-03
Tirol, April 1927
Tirol, April 1927 LeoA, N 31_GN-06-299
Hohe Tatra, August 1929, Meerauge, Gletschersee am Fuße der Meeraugspitze
Hohe Tatra, August 1929, Meerauge, Gletschersee am Fuße der Meeraugspitze LeoA, N 31_GN-12-811
Korsika, April 1930, Bonifacio von Osten
Korsika, April 1930, Bonifacio von Osten LeoA, N 31_GN-12-793
Podolien (Polen / Ukraine), Mai /Juni 1936
Podolien (Polen / Ukraine), Mai /Juni 1936 LeoA, N 31_NN-01-175
Helgoland 1930, Hafenmauer mit Nonne und Mönch bei Sonnenuntergang
Helgoland 1930, Hafenmauer mit Nonne und Mönch bei Sonnenuntergang LeoA, N 31_GN-10-638
Rumänien 1938, Berg Găina
Rumänien 1938, Berg Găina LeoA, N 31_NN-01-074-03
Hohe Tatra, August 1929, Floßfahrt auf dem Dunaje

Kurt Mothes –
Abenteurer, Organisator, Jungenschaftler

Friederike Hövelmans

Der ehemalige Leopoldina-Präsident Kurt Mothes ist vor allem ob seiner wissenschaftlich-akademischen Karriere und seiner ganz eigenen, charismatischen und unbestechlichen Persönlichkeit eine angesehene Figur in der neueren Leopoldina-Geschichte geworden. Weniger bekannt ist der biographische Hintergrund dieses Charakters. Gerade bei der Betrachtung dieser beeindruckenden Auswahl an fotografischen Zeugnissen seines Nachlasses ist es interessant, sich dem jungen Kurt Mothes zu nähern – dem Mothes, der in den 1920er und 1930er Jahren diese Fotos geschossen hat: ein junger Mann, kein Jugendlicher mehr, aber doch entscheidend von seiner Jugend geprägt, ein Wissenschaftler ganz am Anfang der akademischen Laufbahn.

Wer war dieser Mann überhaupt? Aufgewachsen im Kaiserreich und Ersten Weltkrieg, ausgebildet in der Weimarer Republik, kontinuierliche Karriereschritte sowohl im Dritten Reich als auch in der DDR – vor allem letzteres klingt nach einem opportunistischen, unpolitischen Menschen, der vor allem seine eigenen Ziele verfolgte. Doch die Biographie von Kurt Mothes lässt sich nicht auf diese Weise verkürzen und enthält so manch spannenden Aspekt, der seine charismatische Persönlichkeit näher beleuchtet. Auf diesem Weg lernen wir den jungen Kurt Mothes kennen, dessen Erlebnisse und Erfahrungen erst den späteren Gelehrten und Präsidenten der Leopoldina möglich machen sollten.

Geboren 1900 als Sohn eines städtischen Oberverwaltungsinspektors im vogtländischen Plauen, erlebte er seine Kindheit in einem klassisch bürgerlichen Elternhaus des Kaiserreichs. Der Erste Weltkrieg brach demzufolge heftig in dieses Milieu und seine Jugend ein. Mothes legte großen Wert darauf, es seinen Freunden und Klassenkameraden gleich zu tun und wollte an die Front – zu seinem eigenen Bedauern war er zu jung, um noch eingezogen zu werden. Dennoch legte er das Notabitur ab und begann noch zu Kriegszeiten eine Ausbildung zum Apotheker.

Parallel zu seiner schulischen bzw. beruflichen Karriere und seinem Elternhaus gab es aber im Leben von Kurt Mothes eine weitere stabile Säule, die großen Einfluss auf den Jugendlichen und jungen Mann hatte und sein restliches Leben entscheidend prägte: die Jugendbewegung! Der Wandervogel begründete um die Jahrhundertwende eine Bewegung, die das Selbstbild der heranwachsenden Generationen grundlegend verändern sollte: Galt es bis zu diesem Zeitpunkt als gesellschaftlicher Konsens, dass auf die Kindheit das Erwachsenenalter folgte, entwickelte sich nun zum ersten Mal eine Jugend, die eine eigenständige Lebensform parallel zu Elternhaus und Schule einforderte. Die Suche nach der eigenen Individualität, nach »innerer Wahrhaftigkeit« und dem Bedürfnis nach einer selbstbestimmten Lebensgestaltung verlangte nach Raum und Selbständigkeit. Für 10–16jährige Jungen und Mädchen, die auf den weiterführenden Schulen des bürgerlichen Milieus mit dieser Jugendbewegung in Kontakt kamen, bedeutete es zu allererst, dass sie im Schutz einer Gruppe ihre Adoleszenz ausleben durften. Die Freizeitgestaltung an Nachmittagen, Wochenenden und in den Ferien war nun geprägt von gemeinsamen Aktivitäten, viel Zeit in der Natur, Wanderungen, Lagerfeuerromantik und dem Gedanken »Jugend führt Jugend«.

Kurt Mothes kam durch seinen Biologielehrer mit der Jugendbewegung in Kontakt. Bei den Wanderungen durch das Vogtland trafen sich seine schon zu diesem Zeitpunkt stark ausgeprägte Begeisterung für die Natur und sein aktives, unkonventionelles Wesen. Seine spätere Frau, Hilda Eilts, begegnete ihm in dieser Zeit zum ersten Mal und war zunächst wenig angetan, wie sie später berichtete: »Kurt Mothes war eine Klasse über uns und interessierte meine Freundin Erika und mich überhaupt nicht, im Gegenteil, wir machten uns über ihn lustig. Wenn er so mit seinen langen Schritten durch Wiesen und Moore stapfte, ein Jägerhütl auf dem Kopf, einen aus zwei Militärzeltbahnen gearbeiteten Umhang über Schultern und Rucksack, ein scharfes Messer in der Hand und eine große grüne Botanisiertrommel über der Schulter, dann sagten wir zueinander: ›Das ist wirklich ein komischer Kauz, ihn interessieren nur die Blumen, wenn sie Heu geworden sind.« [ 1 ]

Hilda wie Kurt scheinen ihre Meinung doch noch geändert zu haben: aus den Weggefährten wurden Freunde, aus der Freundschaft wurde Liebe und nach ereignisreichen gemeinsamen Jahren heirateten die beiden 1929, gründeten eine Familie und Hilda wurde eine wichtige Stütze im Leben von Kurt Mothes. Näher kennengelernt haben sich die beiden während ihres Studiums und dort vor allem während ihrer Arbeit für die Studentenverwaltung an der Universität Leipzig, denn die Sächsische Jungenschaft, die sich nach dem Ersten Weltkrieg aus dem alten sächsischen Wandervogel heraus gründete, trennte sich von den Mädchen. Als rein männliche Organisation glaubte man den altersspezifischen Bedürfnissen der Jungen besser gerecht werden zu können. 1926 finden die geschlechtergetrennt organisierten Gruppen unter dem Dach der überregional organisierten Deutschen Freischar wieder zueinander, der Gruppenalltag und das Fahrtenleben bleiben davon aber unberührt. Kurt Mothes war von Beginn an Mitglied der Sächsischen Jungenschaft und engagierte sich im Laufe der 1920er Jahre in verschiedenen Gremien und Aktivitäten der Bundesarbeit, besonders in der Sächsischen Jungmannschaft, den ältesten Mitgliedern der Jungenschaft, die den reinen Jungengruppen entwuchsen und sich zum Teil an den Universitäten in veränderten Konstellationen wieder zusammenfanden.

Wichtigster Bestandteil der jugendbewegten Lebensweise war die Sehnsucht nach Erlebnissen in der Fremde und die Abenteuerlust, die auf großen Wanderfahrten quer durch Europa gestillt wurde. Die Fahrten der Sächsischen Jungenschaft führten meist nach Südosteuropa, und so heißt es in einem Fahrtenbericht von Kurt Mothes zu seinen Erfahrungen in Kroatien 1928: »[…] Ein neues Bimmelbähnchen, das durch Primelwiesen an Krokus und Christrosen vorbeiführt, kreisrunde Einbrüche in den Kalkboden (Dolinen), auf deren Grund die Bauern Kartoffeln pflanzen – und dann überraschend wieder deutsche Laute, ein deutsches Landstädtchen, inmitten einer grossen Doline, einer ›Polje‹ gelegen, Gottschee. Hier holen wir Atem für künftige Anstrengungen. Die Leute sind ernst, ziemlich zurückhaltend zu uns. Sie haben in dem neuen Staate Jugoslawien ihre alte Vormachtstellung eingebüsst, und das wurmt! […] Am nächsten Tag ziehen wir noch durch deutschsprechendes Gebiet in der Gottscheer Polje, elende Dörfer mit mutloser Bevölkerung, die kaum den deutschen Gruss zu bieten wagt, wo man uns schließlich für Beauftragte Deutschlands hält, den Boden für die Okkupierung auszumessen. [… Reise zur Insel Rab] Hier geniessen wir noch ein paar Tage das Meer, die Stille, die Farben, ruhen aus von der Fülle des immer Neuen, das uns Tag für Tag überwältigte. Hier erleben wir den Süden in seiner Pracht und seiner Fremdheit. Hier leuchtet, jubelt, braust, lacht alles, und nur im Traum denken wir an den Norden, an die Heimat, wo die Nebel wohnen, wo sich Licht und Schatten zu einem Grau vermählen, wo alles gedämpft, ruhiger, nüchterner – aber eben heimatlich ist. […] Daheim laufen wir durch dicken grossflockigen Neuschnee. Doch die Sonne der Adria brennt noch auf unserer Haut – und in unseren Herzen – und dort wird sie nie mehr aufhören können mit leuchten.« [ 2 ]

In diesem Bericht kommen viele Themen zusammen, die die großen Fahrten der Jungenschaftler im Laufe der 1920er Jahre ausmachten: das Naturerlebnis, die Begegnung mit den auslandsdeutschen Siedlungen in Südosteuropa, Überreste des österreichischen Kaiserreiches und den damit verbundenen politischen Spannungen, aber auch die exotisch anmutenden Erlebnisse in der Fremde durch Kultur, Geographie und Wetter und nicht zuletzt der Vergleich mit der eigenen Heimat. Die unbekannte Natur mit ungewöhnlicher Flora und Fauna stellte für den Biologen Kurt Mothes einen besonderen Reiz dar und war gleichzeitig der unverfänglichste Aspekt der Reisen. Die vielen sehnsuchtsvollen Landschaftsaufnahmen und Detailfotos von besonderen Pflanzen finden sich nicht nur, aber besonders in seinem Nachlass in großem Ausmaß. Doch auch die anderen Jungen und jungen Männer waren fasziniert: In einem scheinbar freien Lebensraum, der mit allen Sinnen genossen wurde, konnten die Jugendlichen ihre Kräfte und Ausdauer testen, bei Bootsfahrten und Wanderungen ihrer Abenteuerlust freien Lauf lassen und gleichzeitig ihre Eigenständigkeit bei der Organisation der Fahrt wie auch der Verpflegung beweisen.

Die erst zufällige Begegnung und dann strukturierte Auseinandersetzung mit den auslandsdeutschen Siedlungen stellt sich als ungleich brisanter heraus und bewegte sich zwischen naivem Interesse sowie dem Wunsch zu helfen einerseits und der Abwehr von Irredenta-Vorwürfen andererseits. Den ursprünglichen Ausgangspunkt für diese Reisen stellte neben der unbekannten Natur auch der Wunsch nach der Begegnung mit dem Fremden und Exotischen in der Ferne dar. In den faszinierten Äußerungen von Mothes über die Adria und den schwärmerischen Ausführungen über die berauschenden Eindrücke der fremden Umgebung wird deutlich, wie unbekannt andere Länder, ihre Kultur und ihre Besonderheiten für Jugendliche dieser Zeit waren – Auslandsreisen für junge Menschen der bürgerlichen Mittelschicht waren ein Novum, brachten viele bunte Eindrücke in die Heimat und trugen durch diese Sonderstellung der jungen Männer mit zu deren Identitätsbildung und einem elitären Selbstbild bei. Es ermöglichte ihnen zum ersten Mal einen Blick über den heimatlichen Horizont hinaus und einen Perspektivwechsel, der den meisten Gleichaltrigen und oft auch den Eltern verwehrt blieb. [ 3 ]

Trotz allem Engagements und gesellschaftspolitisch anmutender Aktivitäten der Jungenschaftler und vor allem der Jungmannschaftler hatte ein Standpunkt durchgehend Bestand: Die Erlebnisse der politischen Wirren gerade zu Beginn der Weimarer Republik ließen sie eine dezidiert als ›unpolitisch‹ beschriebene Haltung einnehmen, um sich nicht parteipolitisch vereinnahmen oder angreifbar machen zu lassen. Das Parteibuch des Elternhauses sollte für die Jugendlichen ebenso wenig eine Rolle spielen wie die aktuellen Koalitionen im Reich. Gesellschaftspolitisch relevante Tätigkeiten waren damit jedoch nicht gemeint, wie besonders Kurt Mothes in den darauffolgenden Jahren bewies: Seine politische Grundeinstellung zeigte sich in seinem zweiten großen Betätigungsfeld, der Arbeit im AStA [ 4 ] der Universität Leipzig, schon einige Jahre früher.

Der Wechsel vom Heimatort in die Universitätsstadt sorgte beim ihm für eine Verschiebung und Erweiterung seines Handlungsspektrums. Laut den noch erhaltenen Akten des AStA war Mothes mit verschiedenen Arbeitsbereichen vom Wintersemester 1921 / 22 bis zum Wintersemester 1923 / 24 aktives Mitglied. Im Laufe der darauffolgenden Jahre waren auch verschiedene andere Mitglieder der Sächsischen Jungenschaftler in die studentische Selbstverwaltung involviert. Diese Art der politischen Partizipation steht also auch ein Stück weit stellvertretend für das gesellschaftliche Engagement und den Selbstanspruch der jungen Männer als eine Möglichkeit der Weiterentwicklung über die reinen Jungenaktivitäten hinaus. [ 5 ]

Im Februar 1923 geriet die Studentenselbstverwaltung jedoch in eine Krise: Ausgelöst durch Streitigkeiten der organisierten Studentenschaft auf Reichsebene, gerieten in der Leipziger Studentenversammlung der linksliberale Flügel des AStA und korporierte Studentenschaften aneinander. Bei einer Reichsversammlung der Deutschen Studentenschaft in Würzburg kurz zuvor brachen völkisch-nationalistische Strömungen sich Bahn, es wurde über die Frage nach einem arischen Zugehörigkeitsprinzip diskutiert und eine entsprechende Satzung verabschiedet. Die endgütige Entscheidung wurde an die einzelnen Studentenschaften delegiert und erhielt vor dem Hintergrund der aktuellen Rheinlandbesetzung zusätzlichen politischen Zündstoff. In Leipzig brachen bei einer Studentenversammlung, in der über die Würzburger Satzung abgestimmt werden sollte, so große Tumulte aus, dass die Veranstaltung abgebrochen wurde. [ 6 ] »Auf Grund der in der gestrigen Studentenversammlung gefassten Beschlüsse und vor allem auf Grund der taktlosen Haltung und ungeheuer rohen Kampfweise eines großen Teils der versammelten Studentenschaft […]« gab die Mehrheit des AStA ihren Rücktritt bekannt.

Weiter erklärten sie: »Nachdem die Annahme der Würzburger Satzung die Studentenschaft der Universität Leipzig im Gegensatz zu dem Beschluss des AStA setzt und damit einen großen politischen Kampf mit nie dagewesener Heftigkeit und unabsehbaren Folgen herausfordert, erklären wir, Vertreter der studentischen Arbeit, dass wir für einen derartigen unmotivierten politischen Schritt keinerlei Verantwortung übernehmen können, […]«. [ 7 ] Kurt Mothes unterzeichnete diese Erklärung stellvertretend für achtzehn AStA-Mitglieder und war fünf Monate später auch unter den Mitgliedern eines neu gewählten AStA vertreten. Interessanterweise bezieht sich dieser AStA explizit auf eine Verfassung vom 7. Februar 1923, erstellt zwei Tage vor der eskalierten Studentenversammlung. Die vom ehemaligen AStA verabschiedete Satzung scheint also auch über den Aufruhr hinaus Bestand gehabt zu haben und zeugt nicht nur von einer personellen, sondern auch inhaltlichen Kontinuität und einer Abwehr jener völkischer Tendenzen. [ 8 ]

Während seiner aktiven Zeit in der Studentenselbstverwaltung schuf Kurt Mothes eine damals neuartige und ungewöhnliche Institution der studentischen Selbsthilfe, die sogenannte »Helferschaft«. Rudolf Lennert, ein lebenslang wichtiger Freund von Mothes, berichtete später nicht ohne Stolz aus dieser Zeit und würdigt den Anteil seines Freundes an diesem Werk: »Ihr Zentrum war die Mensa, und ermöglicht wurde ihr Entstehen durch die einmalige Situation der Inflationsjahre, die einen großen Teil der Studenten an den Rand der Existenzmöglichkeit brachte. Für sie baute Mothes aus den Resten eines inflationsverfallenen Theologenkonvikts mit Hilfe zweier Professorenfrauen eine große, leistungsfähige Mensa auf, die um 1923 etwa 2000 Studenten beköstigte […]« Dieser Betrieb konnte nur aufrecht erhalten werden mit »etwa hundert Studenten und Studentinnen, die diesen Dienst nach einem genau geregelten Stundenplan verrichteten, bald zusammenwuchsen und während der Essenszeiten an zwei großen Ecktischen der Mensa und auf vielen gemeinsamen Abenden und Wanderungen […] ein Gebilde aus allen Fakultäten wurden, was es außerhalb der Korporationen sonst kaum gab. Einige von ihnen leiteten und versahen statt des ›Tischdienstes‹ eine Reihe von kleinen Spezialämtern, die zum Teil noch aus der Vorkriegs-Freistudentenschaft stammten: das Wohnungsamt, eine Leihbücherei, ein (Wander-)Kartenverleihamt, ein Theateramt – und ein ›Bettwäscheverleihamt‹. Die größte dieser studentischen Selbsthilfeeinrichtungen, das ›Akademische Übersetzer- und Dolmetscherbüro‹, wuchs seiner wirtschaftlichen Verflechtungen wegen bald aus der Helferschaft heraus; und das politischste Erbe der alten Freistudentenschaft, die ›Studentischen Arbeiterunterrichtskurse‹, wurde ebenfalls eine selbständige Organisation. Der Mensa-Vorsitzende und Chef der ›Helferschaft‹ war eine mächtige Figur an der Universität – jahrelang war das Mothes selbst, neben seiner intensiven Arbeit in der eigentlichen ›Hochschulpolitik‹ und einem nie unterbrochenen Studium auf hohem Niveau. Das Ungewöhnliche der Zeit schien auch ungewöhnliche Kräfte zu wecken. […]« [ 9 ]

In Kontext der ›Studentischen Arbeiterunterrichtskurse‹ kam es auch zum Kontakt mit dem Leuchtenburgkreis, einem gesellschaftspolitisch ausgerichteten und mit der Sozialdemokratie sympathisierenden Zusammenschluss von Studierenden um den späteren Erziehungswissenschaftler Fritz Borinski, die sich explizit nicht als bündisch, aber als der Jugendbewegung nah verstanden. Ein favorisierter Treffpunkt dieses Kreises war die namensgebende Leuchtenburg bei Jena, im Alltag verstreute sie sich aber auf verschiedene mitteldeutsche Universitäten. Durch individuelle Kontakte, Freundschaften und Personalunionen kam es zu einer intensiven Zusammenarbeit zwischen Mitgliedern der Sächsischen Jungmannschaft, die vielfach an der Universität Leipzig studierten, und dem Leuchtenburgkreis. 1930 sollte die Mehrheit der männlichen Leipziger Mitglieder des Kreises aus der Sächsischen Jungmannschaft stammen. Im September 1928 leitete Kurt Mothes eine Arbeitswoche der Jungmannschaft, in deren Verlauf Fritz Borinski und Adolf Reichwein mit den jungen Männern über die Arbeiterbewegung und Arbeiterbildung diskutierten. Trotz der personellen Nähe und engen Zusammenarbeit sah sich Kurt Mothes scheinbar jedoch nicht in der Lage, einen selbstdefinierten Grundsatz der Jugendbewegung nach einer unpolitischen Haltung im Sinne einer parteipolitischen Positionierung zu überwinden. [ 10 ]

Dennoch erwartete er von sich und seinen Freunden eine gesellschaftlich reflektierte Wahrnehmung und kritische Auseinandersetzungen mit den aktuellen Geschehnissen zu Beginn der 1930er Jahre: »[…] Jahre leichten Lebens, freudiger Anerkennung haben es der ›Jugendbewegung‹ leicht gemacht. Bürgerlichkeit lebt in ihr. Massensehnsucht, Führergeschrei, Programmseligkeit herrscht auch bei uns. Reißen wir uns los davon. Sagen wir uns, daß unser Weg in die Einsamkeit, unser Nichtgehörtwerden, unser Beiseitegeschobensein, unsere Hoffnungen auf neues Leben, neue Aufgabe, neues Führertum sind. Uns dies gegenseitig mitzuteilen, halte ich für so wichtig, daß Ihr alle Eure Pfingstpläne umstellen und nach Quersa kommen solltet. Es liegt an uns, aus dem Gautag mehr werden zu lassen als eine Diskussion über Gegenwartsfragen. […] So solltet Ihr alle mit beitragen, fühlbar und denkbar zu machen, warum der Ernst unserer Lage grösser ist als einer nur politischen, wirtschaftlichen Not entspricht. […]« [ 11 ]

Kurt Mothes schien sich der Gefahr, auf die Deutschland sich zu bewegte, im Rahmen des möglichen bewusst gewesen zu sein und versuchte, ein kritisches Hinterfragen der gesellschaftlichen Strömungen anzustoßen. Im Sommer 1933 wurde die Bündische Jugend als größter Feind der Hitlerjugend verboten. Kurt Mothes konzentrierte sich daraufhin wie viele andere Jugendbewegte auf seine Karriere und seine junge Familie, und doch ließ ihn die Prägung seiner Jugend nie los. Trotz seiner weitreichenden Aktivitäten, beruflichen Verpflichtungen wie auch ehrenamtlichen Engagements, begleitete ihn die Reiselust sein Leben lang. So ist das Ehepaar Mothes immer gereist und es ist ihnen gelungen, sich die dafür nötigen Freiräume zu schaffen, wie Hilda Mothes z. B. hier das junge Paar, gerade im Berufsleben stehend, beschrieb: »[…] Bei K. spürte ich die Ferienreife nicht so wie bei mir. Natürlich steckt er wie immer tief in seinen wissenschaftlichen Arbeiten, hat daneben seine Treffen und oft schwere Diskussionen innerhalb der sächsischen Jungmannschaft. Aber er ist unheimlich stark, kann alles verkraften, kann auch Nicht Erledigtes unerledigt liegenlassen, studiert Karten und ist schon lange botanisch mit der Reise beschäftigt. Dagegen bin ich völlig geschafft und kann kaum mehr japsen. Mein erstes Schuljahr an der Helene-Lange-Schule ging zu Ende mit den vielen Konferenzen und den nächtelangen Korrekturen und Zensuren-schreiben. Dazu kommt meine immer verantwortlicher gewordene Arbeit als Führerin der Frauen und Mädchen innerhalb der Deutschen Freischar, bis zuletzt habe ich tagelang Besuche und Besprechungen mit Gruppen- und Gauführerinnen. Trotzdem sitze ich schon 2 Std. nach Schulschluss mehr tot als lebendig neben K. im Zug nach Süden. […]« [ 12 ]

Interessant sind der Anspruch, den Kurt Mothes an sich selbst stellte und in seinem Alltag lebte, wie auch die beeindruckende Energie, welche er in seine verschiedenen Interessensgebiete investierte. Beide Ehepartner waren zu dieser Zeit noch in den jeweiligen Untergruppen der Deutschen Freischar aktiv, in denen sie aufgewachsen waren, und doch wurde es zunehmend schwieriger, Jugendbewegung und Alltagsleben miteinander in Einklang zu bringen – mit der Geburt von Tochter Ute 1931 gab Hilda Mothes ihre Posten ab, und auch Kurt Mothes zog sich in den 1930er aufgrund interner Spannungen und Unstimmigkeiten über die politische Zukunft der Deutschen Freischar immer mehr aus seinen Ämtern zurück – eine Politisierung der Jugendbewegung und ein erzwungener Zusammenschluss mit rechtsorientierten Jugendbünden kam für ihn nicht in Frage. [ 13 ] Stattdessen versuchte er 1932 mit der Gründung einer »Kameradschaft« den alten Freundschaften eine neue Form zu geben, die sich nicht von ihrer jugendbewegten Zugehörigkeit lossagen sollte, aber dennoch einen privat anmutenden, sehr persönlichen Rahmen bot, die gemeinsamen Verbindungen in ihr Leben als erwachsene Männer zu integrieren. »Der Kern dieses Freundeskreises liegt also in solchen Männern, die in unserer Zeit der begeisterten Ein- und Unterordnung ihre Eigenwilligkeit, ihre eigene Gedankenwelt, kurz ihre Persönlichkeit bewahrt haben.« [ 14 ] Trotz des deutlich hervorstechenden Unmutes über die aktuellen politischen Entwicklungen definierte Kurt Mothes aber keine eigene politische Handlungsmaxime, sondern übertrug die Verantwortung auf das Individuum und dessen bündisch geprägten Charakter.

Diese jugendbewegten Einflüsse sollten auch sein Selbstverständnis und sein Handeln in vielen Bereichen seines weiteren Lebens bestimmen – sein oft erwähnter charismatischer Führungsstil und die Fähigkeit, das Zusammengehörigkeitsgefühl einer Gruppe zu fördern, prägten sein Berufsleben, an den Universitäten in Königsberg und Halle, am Forschungsinstitut Gatersleben und auch an der Leopoldina. Die Liebe zum Reisen und das Bedürfnis, sich in der Natur zu bewegen, sehen wir in den hier ausgestellten Bildern. Hilda Mothes fasste die Lebenseinstellung, die ihr Leben genauso prägte wie das ihres Mannes, während eines Vortrags gut zusammen, den sie vor Freunden und Weggefährten im hohen Alter hielt: »[…] Die Grundlagen unseres Handelns zwischen dem 15. und 30. Lebensjahr sind dieselben wie zwischen dem 31. und 83. bzw. 88. Lebensjahr: Liebe zur Natur, zum einfachen Leben, intensive Arbeit und ebenso intensive Erholung und immer wieder die Bereitschaft, über die eigenen Interessen hinaus anderen zu helfen und zu dienen. Ob das angeborene Eigenschaften sind, die durch die Jugendbewegung geweckt und entwickelt wurden, wage ich nicht zu entscheiden. Jedenfalls blieb unser Leben ohne Bruch, auch wenn wir durch die vielen Aufgaben, die das Leben an uns stellte, jahrzehntelang nicht das Bedürfnis hatten, uns mit unserer Vergangenheit zu beschäftigen. […] Es ist mir gelungen, mir meine gewohnte geistige Welt zu erhalten.« [ 15 ] Vielleicht hätte es Kurt Mothes so oder so ähnlich selbst auch ausgedrückt.

  1. [ 1 ] Hilda Mothes: Lebensbericht von Kurt Mothes und Hilda Eilts. Mitschrift ihres Vortrags beim Treffen des Freideutschen Konvents 11.– 13. 5. 1988 in der Eifel. Mothes-Nachlass Benno Parthier.
  2. [ 2 ] Fahrtbericht / Kommentar zur Fotosammlung, Kroatien Ostern 1928. Leopoldina Archiv, Nachlass Kurt Mothes (N 31), 23 / 2a / 03.
  3. [ 3 ] Siehe: Friederike Hövelmans: Die Begegnung mit dem Fremden: Auslandsfahrten der Bündischen Jugend in der Weimarer Republik – am Beispiel der Sächsischen Jungenschaft, in: Leonard Schmieding / Alfons Kenkmann (Hrsg.): Kohte, Kanu, Kino und Kassette. Jugend zwischen Wilhelm II und Wiedervereinigung. Leipzig 2012., S. 59–81.
  4. [ 4 ] AStA = Allgemeiner Studenten-Ausschuss
  5. [ 5 ] Siehe: Unterlagen Allgemeiner Studenten-Ausschuss der Universität Leipzig, UAL, Film 436.
  6. [ 6 ] Siehe: Manifest des AStA, Zeitungsartikel des Leipziger Tageblatt (11. 2. 1923), der LVZ (12. 2. 1923) und der LNN (27. 2. 1923), UAL, Film 436.
  7. [ 7 ] Erklärung des AStA, 10. 2. 1923, UAL, Film 436.
  8. [ 8 ] Siehe: Bekanntgabe des neuen AStA an das Rektorat der Universität, 30. 7. 1923, UAL, Film 436.
  9. [ 9 ] Rudolf Lennert: Universität und Studentenschaft im Leipzig der zwanziger Jahre. S. 25f., in: Gerd Doerry (Hrsg.): Politische Bildung in der Demokratie. Fritz Borinski zum 65. Geburtstag. Berlin 1968.
  10. [ 10 ] Siehe: Fritz Borinski u.a. (Hrsg.): Jugend im politischen Protest 1923 – 1933 – 1977. Frankfurt / Main 1977, S. 24–42.
  11. [ 11 ] Rundbrief von Kurt Mothes als Reaktion auf die Einladung zum Gautreffen Pfingsten 1932, 06. 5. 1932, AdJB, A22 / 11.
  12. [ 12 ] Reisebericht Korsikafahrt 1930, geschrieben von Hilda Mothes 1983. Leopoldina Archiv, Nachlass Kurt Mothes (N 31), 23 / 2a / 05 / 07.
  13. [ 13 ] Nachzulesen u.a. in seiner Korrespondenz. Leopoldina Archiv, Nachlass Kurt Mothes (N 31), 21 / 07 / 08 / 01.
  14. [ 14 ] Aufruf zur Bildung der Holzbacher Kameradschaft im Gau Sachsen der Deutschen Freischar, verfasst von Kurt Mothes, 15. 1. 1932, AdJB, A22  / 11.
  15. [ 15 ] Zit. nach Hilda Mothes: Lebensbericht von Kurt Mothes und Hilda Eilts. Mitschrift ihres Vortrags beim Treffen des Freideutschen Konvents 11. –  13. 5. 1988 in der Eifel. Mothes-Nachlass Benno Parthier.
Südtirol, Februar / März 1938, Tresero Gipfel

Anhang

Aus Neugier auf das Fremde – Jugendbewegte Europareisebilder aus dem Nachlass Kurt Mothes

Eine Gastausstellung von Archiv und Bibliothek der Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften im Stadtarchiv Plauen

Logo der Stadt Plauen

Konzept und Redaktion

Dr. Danny Weber
Leiter der Abteilung Archiv und Bibliothek der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina

Kontakt

archiv@leopoldina.org
stadtarchiv@plauen.de

Gestaltung und Programmierung

Hug & Eberlein
Steffen Rademacker

Bildnachweis Titelbilder


Südtirol, Februar / März 1938, am Monte Pasquale
LeoA, N 31_NN-06-626-01

Allgäuer Alpen bei Oberstdorf, September / Oktober 1934, Mädelegabel, Hilda Mothes
LeoA, N 31_NN-03-250-06

Ostpreußen, Juli 1936, Kurisches Haff bei Kargeln
LeoA, N 31_GN-03-126

Hohe Tatra, August 1929, Floßfahrt auf dem Dunaje
LeoA, N 31_GN-08-485

Südtirol, Februar / März 1938, Tresero Gipfel
LeoA, N 31_NN-06-602